Wichtiges EuGH-Urteil – auch für Niedersachsen: Flüchtlinge, die abgeschoben werden sollen, dürfen nicht gemeinsam mit Straftätern inhaftiert werden

PRO ASYL, der Flüchtlingsrat Niedersachsen und Rechtsanwalt Peter Fahlbusch begrüßen, dass der Europäische Gerichtshof in seinem heutigen Urteil erstmalig Leitplanken vorgegeben hat für die Unterbringung von Menschen, die abgeschoben werden sollen. Die Bundesregierung muss Konsequenzen ziehen. Die Bundesländer sind gefordert, ihre Haftanstalten zu überprüfen und zum Teil umzubauen.

Die Luxemburger Richter sind heute zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Inhaftierung von Menschen zum Zwecke der Abschiebung Mindeststandards zu beachten sind. So dürfen Abschiebehäftlinge nicht in Gefängnis-ähnlichen Einrichtungen untergebracht werden. Sollten sie aufgrund mangelnder Kapazitäten in eine Haftanstalt eingesperrt werden, auf deren Gelände sich auch Strafgefangene befinden, so muss vorab vom Haftrichter überprüft werden, ob tatsächlich eine unvorhersehbare Notlage vorliegt, die das nötig macht. Anders als von der Bundesregierung vor drei Jahren mit dem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ beschlossen, ist dies vorab zu prüfen. Der EuGH macht nun klar: Deutschland darf nicht pauschal eine Notlage verkünden und Abschiebehäftlinge deshalb mit Straftätern zusammen einsperren. Entgegen der Auffassung der Bundesregierung gibt es hier also keinen justizfreien Raum!

Rechtsanwalt Peter Fahlbusch von der Kanzlei LSFW in Hannover, der das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof führt, PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass § 62a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetz nun infolge des Urteils entsprechend geändert wird. Die im Sommer 2019 eingeführte Regelung, die es erlaubt, Abschiebungsgefangene bis 30. Juni 2022 zusammen mit Strafgefangenen in ein- und derselben Einrichtung unterzubringen, muss nach der heutigen Entscheidung unverzüglich ausgesetzt werden.

Geflüchtete, die keine kriminelle Tat begangen haben, dürfen nicht hinter meterhohen Gefängnismauern verschwinden

Im konkreten Fall, über den der EuGH entschied, hatte sich ein Mann aus Pakistan gegen den Abschiebungshaft angeordnet worden war, mit einer Beschwerde gegen seine mehrere Wochen dauernde Unterbringung in der Haftanstalt Hannover an das dortige Amtsgericht gewandt. Er war in einem Gefängnis untergebracht, das zwar für Abschiebehäftlinge vorgesehen war, in dem aber im fraglichen Zeitpunkt auch Strafgefangene waren. In diesem Fall spielt der EuGH den Ball an die Bundesrepublik zurück. Aber: „Das Urteil ist ein Appell an die Landesregierungen, sich bestehende Hafteinrichtungen genau anzusehen und diese gegebenenfalls umzubauen“, sagt Rechtsanwalt Fahlbusch. Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei PRO ASYL, kommentiert: „Haftanstalten wie die im bayerischen Hof oder in Glücksstadt in Schleswig-Holstein sind von meterhohen, stacheldraht-bewehrten Mauern umgeben und haben damit eindeutig den Charakter eines Gefängnisses. Der EuGH hat klar gemacht, dass Abschiebehäftlinge dort nicht eingesperrt werden dürfen. Denn es geht hier um Personen, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen, sondern lediglich ausreisepflichtig sind. Diese Menschen sind keine Kriminellen und sollten auch nicht so behandelt werden.“

Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen ergänzt: „Zudem müssen jetzt alle Bundesländer eigene Gesetze erlassen, die die Rechte der Abschiebehäftlinge regeln und sich klar unterscheiden von denen zum Strafvollzug. Auch das Land Niedersachsen darf nicht so weiter machen wie bisher. Ohne eine solche Regelung ist eine Inhaftierung rechtswidrig.“ Das trifft insbesondere auch auf Bayern zu, das in der Abschiebepolitik besonders restriktiv vorgeht.

Anwalt: Die Hälfte aller Menschen in Abschiebehaft zu Unrecht inhaftiert

Rechtsanwalt Fahlbusch weist darauf hin, dass weitergehende Veränderungen nötig sind. „Die gegenwärtige Praxis, Betroffene ohne anwaltliche Unterstützung teilweise monatelang einzusperren, nur um sie von A nach B zu verbringen, ist eines Rechtsstaats unwürdig und muss dringend geändert werden.“ Nicht alles, aber vieles würde besser, wenn die Gefangenen vom Tag der Festnahme an einen Pflichtanwalt zur Seite gestellt bekämen. Die Ampel-Koalition hat sich vorgenommen, Kinder und Jugendliche nicht mehr in Abschiebungshaft zu nehmen. Das heutige Urteil macht erneut deutlich, dass das nicht ausreicht.

Seit 2001 hat Rechtsanwalt Fahlbusch bundesweit 2.215 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. Er stellt regelmäßig eigene Berechnungen auf, weil es keine offiziellen Zahlen gibt. In den Fällen des Anwalts wurden 1.164 dieser Menschen (das heißt 52,6 %) laut den vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche „nur“ einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 1.164 Gefangenen 30.507 rechtswidrige Hafttage, das sind gut 83 Jahre rechtswidrige Haft (Stand: 8.3.2022). „Im Durchschnitt befand sich jeder Mandant knapp vier Wochen zu Unrecht in Haft. Das ist ein handfester Skandal, der uns alle nachdenklich machen sollte“, sagt Fahlbusch, der bis auf Weiteres ein sofortiges Haftmoratorium fordert.

Hintergrund

In Abschiebungshaft kommt nur jemand, der ausreisepflichtig ist und bei dem die Sorge einer Fluchtgefahr besteht. Das bietet viel Interpretationsspielraum. Ob Fluchtgefahr vermutet wird oder nicht, ist sehr subjektiv und hängt auch mit den persönlichen und politischen Einstellungen derjenigen Mitarbeiter*innen in der Ausländerbehörde oder im Regierungspräsidium zusammen, die das entscheiden. Obwohl nur Menschen in Abschiebungshaft festgehalten werden dürfen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie untertauchen, landen auch Alte, Kranke, Schwangere oder Mütter mit Kleinkindern in Abschiebegefängnissen.

Das Vorabentscheidungsverfahren dient dazu, es nationalen Gerichten zu ermöglichen, dem EuGH Fragen bezüglich der Auslegung und Gültigkeit von Europarecht vorzulegen. Das vorlegende Gericht und alle folgenden Instanzen sind an die Entscheidung des EuGH gebunden.

PRO ASYL hat das Gerichtsverfahren über seinen Rechtshilfefonds unterstützt. Zum Hintergrund siehe hier; ein Interview mit RA Fahlbusch zur Abschiebehaft lesen Sie hier.

(Quelle: Pressemitteilung des Flüchtlingsrats Niedersachsen vom 10. März 2022)

Lesbos-Infoveranstaltung und Die Falle – Theater von und mit Riadh Ben Ammar

Liebe Freund*innen,

hiermit möchten wir euch ganz herzlich zu zwei Online-Veranstaltungen einladen:

Am 4. Mai um 19.30 Uhr informieren Aktivistinnen über die aktuelle Situation auf Lesbos.

Am 10. Mai um 20 Uhr führt Riadh Ben Ammar live sein Theaterstück „Die Falle“ auf.

Veranstaltung zur aktuellen Situation auf Lesbos

Wie ist die Situation auf Lesbos jetzt, mehr als ein halbes Jahr nach dem katastrophalen Brand im Camp Moria? Tausende Menschen harren noch immer vor Ort aus, Deutschland hat die Aufnahmen erst mal gestoppt. Was kann Mensch tun?
Wir, drei Frauen aus Hannover und aktiv bei Hannover Solidarisch, waren selbst lange auf Lesbos. Wir berichten über die Situation und unsere Erfahrungen. Wir wollen auch zeigen, wie selbstorganisierte Gruppen aus geflüchteten und nicht geflüchteten Menschen gemeinsam versuchen der katastrophalen Situationen etwas entgegenzusetzten.

Dazu werden anwesend sein:

  • Anne Speltz, Fotografin, hat mit Refocus Media Lab Fotoworkshops mit Geflüchteten gestaltet. Sie berichtet von ihren Eindrücken, die sie durch die fotografische Arbeit und dem täglichen Kontakt zu den Menschen bekommen hat.
  • Kiara Weisbrod aktiv bei der No Border Kitchen (NBK) Lesbos und bei WISH (Woman in Solidarity House) erläutert die Arbeit des antirassistischen und feministischen Projekts, in dem insbesondere Frauen unterstützt werden
  • Oda Becker aktiv bei der NBK Lesbos und der Kampagne „You can´t evict Solidarity“ thematisiert u.a. die Situation der Asylverfahren und die Repressionen gegen die Geflüchteten, wie die willkürliche Verhaftung von 6 Jugendlichen nach dem Brand am 8. September 2020.

Dienstag, 4. Mai um 19:30 Uhr bis max. 21:00 Uhr. Zugang über Zoom (App herunterladen oder auf zoom.us auf „einem Meeting beitreten klicken), Meeting-ID: 920 6752 9073, Code: 632524.

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Die Falle. Online-Theater live von und mit Riadh Ben Ammar

Das Theaterstück ist eine Geschichte über die geschlossene EU-Außengrenze und ihre Missverständnisse. Man kann nicht an der Küste leben, ohne die andere Seite wenigstens einmal gesehen zu haben. In Tanger, Algier oder Tunis sitzen selbst die Katzen im Hafen und schauen auf die andere Seite. Alle wollen dahin. Die meisten träumen davon… Die jungen Leute, die es schaffen in Europa zu landen, versuchen alles, um nicht wieder mit leeren Händen zurückzukehren. Illegalität, Kriminalität und die ständige Angst abgeschoben zu werden sind ihr Alltag. Für das Recht auf Bewegungsfreiheit! Betrüger*innen? Dann lass uns darüber reden!

Montag, 10. Mai um 20 Uhr. Zugang über Zoom (ab 19.45 Uhr): Meeting-ID eingeben: 916 5007 0734, Code: 413091

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Für beide Veranstaltungen bitte wir statt Eintritt um Spenden an zwei Projekte auf Lesbos:

No border kitchen (NBK) und/oder Women in Solidarity House (WISH)

Verwendungszweck: just people (Verwendungszweck beachten!)
Kontoinhaber*in: VVN/BdA Hannover
Verwendungszweck: just people
Bank: Postbank Hannover
IBAN: DE67 250 100 3000 4086 1305

Wir freuen uns auf euch!

Solinet Hannover

Seebrücke Hannover

Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.

Fragen (zu Zugang o.ä.) an Solinet: solinet_hannover@riseup.net